Rede zur Eröffnung Hegenbarth-Ausstellung: Dropping Point, Städtische Galerie
Dieser Text wird zu großen Teilen von etwas handeln, das unsichtbar ist,
unsichtbar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst sind es die Bilder von denen
hier die Rede sein wird, Bilder die sie noch nicht sehen können. Und
selbst wenn sie nachher den Ausstellungsraum betreten und die
Arbeiten betrachten, wird vieles von dem, was sie hier gehört haben, vor
ihren Blicken verborgen bleiben.
Worte dienen häufig dazu Areale oder Dimensionen zutage treten zu
lassen, die sich dem Sehen verweigern.
Um die Bilder von Maria Katharina Morgenstern in ihrer ganzen
Komplexität erfassen zu können, ist notwendig das, was sich den Blicken
entzieht im Text erscheinen zu lassen. Das betrifft vor allem den
künstlerischen Prozess.
Fragen nach dem Bildprozess treten in den Vordergrund, wenn die
mimetische Qualität ihre Relevanz verliert. Der Kunsthistoriker Hans
Belting ist dem - bezogen auf die frühchristliche Kunst - in seinem
Grundlagenwerk „Bild und Kult“ nachgegangen. Im Zusammenhang mit
dem Kult spielt das Entstehen von Bildnissen eine wesentliche Rolle. Ich
denke an die Vera Ikon, das wahre Bild, auch als das Schweißtuch der
Veronika bezeichnet, welches einen Abdruck des Antlitz Christie zeigt.
Es ist ein Bild des Zufalls, entstanden durch eine Berührung.
Wenn die Ausstellung mit dem Titel: „Dropping point“ überschrieben ist,
was sich mit „Tropfpunkt“ übersetzen lässt, dann geht es um einen
Moment der Instabilität und Wandlung, jener transitorischen Zustand
also, der den Werken vorausgeht (sofern wir mit dem klassischen
Werkbegriff operieren). In seiner ursprünglichen Bedeutung ist der
Tropfpunkt eigentlich die Temperatur bei der sich ein Stoff verflüssigt.
Bezogen auf den künstlerischen Prozess verdichten sich im Tropfen alle
Möglichkeiten des noch nicht entstandenen Bildes. Er bezeichnet das
Davor, welches flüssig ist.
Tatsächlich erscheint das Liquide nicht nur für die Arbeiten von Maria-
Katharina Morgenstern grundlegend. Bis auf Zeichnungen die mit
Graphit, Kohle und ähnlichen festen Materialien ausgeführt werden und
sich auf dem Bildträger abreiben, geht ein großer Teil von Bildwerken
aus Flüssigkeiten oder zähflüssigen Pasten hervor. Selbst bei der
Fotografie ist ein Zusammenspiel von Flüssigkeiten an der Bildwerdung
beteiligt.
Für die Blätter der Berg-Serie hat Maria-Katharina Morgenstern Auszieh-
Tusche, die mit Schellack als Bindemittel versetzt wird, auf das Papier
getropft oder gegossen. Um den Farbstoff auf dem Papier zu bewegen
nutzt sie die Hände, manchmal einen Rakel. Vorher oder während dieses
Vorgangs wurde das Papier mit Benzin getränkt oder betropft. Benzin
verhindert das Durchtränken der Blätter mit dem Farbstoff und
verdunstet nachdem es sich in das Schwarz der Tusche gefressen hat.
Aus diesem chemischen Vorgang bilden sich wolkige Formationen in
verschiedenen Nuancen von Grau.
Morgenstern benetzt die Blätter von zwei Seiten. Häufig wählt sie die
eigentliche Rückseite als Vorderansicht.
Ihren unmittelbaren Einfluss auf die Bildentstehung begrenzt die
Künstlerin bewusst. Sie wird zur Begleiterin der Bildwerdung. „Tun,
geschehen lassen, betrachten“ hat Roland Barthes in „Die Helle
Kammer“ seiner Arbeit über die Fotografie, die drei Tätigkeiten benannt,
die diesem Medium zugrunde liegen. Hierin ähnelt das fotografische
Verfahren dem Bildprozess bei Morgenstern.
In seiner metaphorischen Dimension berührt ihr Arbeitsprozess zwischen
Erscheinen und Verschwinden existentielle Fragen der Dualität zwischen
dem Sein und dem Nichts. Diese Dimension hebt die Arbeiten über ihre
pure Existenz als Bild hinaus und verleiht ihnen etwas Magisches, was
durch das Motiv Berg noch gesteigert wird. Berge werden in vielen
Kulturen als heilige Orte verehrt. Orte in denen etwas verborgen ist, oder
die dem Verbergen, dem Rückzug dienen. Denken wir nur jene Höhlen,
die früheste Zeugnisse menschlicher Kultur beherbergen.
Wenn sich in Morgensterns Bildern weiße Schwaden an den Massiven
entlangziehen, denken wir an Gletscher. Gletscher, die im Laufe des
Anthropozän dem Verschwinden anheim gegeben sind.
In einem Text über das Verschwinden hat der italienische Philosoph
Gianluca Solla das Verhältnis der Isländer zu ihrem Gletscher Okjökull
beschrieben: „In dieser lebenswichtigen Verbindung mit dem Gletscher
verbirgt sich eine kostbare Intuition: dass jedes Lebewesen nicht in
seiner individuellen Identität haust sondern ausschließlich im
Zusammenschluss mit verschiedenen Lebensformen: menschliche, nicht
menschliche, künstliche, pflanzliche tierische, organische oder
anorganische...deren Überleben allein mit der Verbindung der einen mit
den anderen abhängt.“ Dieser Aspekt ist der Künstlerin durchaus
bewusst.
Neben den Bergen finden sich noch Arbeiten aus zwei weiteren
Werkzyklen in der Ausstellung.
Da wäre eine große Zahl kleiner Zeichnungen, die durch Epoxidharz
geschützt oder versiegelt sind. Morgenstern sieht sie als „eine
Sammlung ihrer eigenen Wirklichkeiten“. Es sind Skizzen, die sich
aufeinander beziehen und in denen sich Formen und Strukturen für
größere Arbeiten ankündigen oder frühere Werke nachhallen. Ihre
Materialität verleiht ihnen den Charakter von Objekten.
Wieder sind es Prozess und Zufall, die zu den Bildern geführt haben. Die
Künstlerin trifft lediglich die Auswahl, bestimmt durch die Frage ihrer
Gültigkeit für das Werk.
Neben der Reihe dieser kleinen Formate sind auch einige Leuchtkästen
zu sehen. Was bei den Berg-Blättern unsichtbar bleibt, wird hier durch
das Licht sichtbar oder als Schemen erahnbar. Das Motiv des
Leuchtkastens lässt Assoziationen an Röntgenbilder aufscheinen, die
verborgene Schichten preisgeben. Besonders bei diesen Arbeiten
kommt der Rakel zum Einsatz. Amorphe Gebilde werden durch scharfe
Linien geteilt. So entstehen Strukturen die nicht mehr geologischen
Formationen gleichen, sondern der kreatürlichen Urgeschichte
entstammen könnten. Manche erinnern an fossile Schnecken. Statt
mythischer Berge und Naturgewalten die ein Gefühl des ausgesetzt
Seins erzeugen, fühlen wir uns ins Labor versetzt. Das Untersuchen und
Durchleuchten schafft eine größere Distanz zum Gezeigten. Anders als
bei den Berg-Arbeiten verschwindet die matte, fast samtige Oberfläche
des durchtränkten Papiers. Dafür wird die Anatomie des Bildes
offengelegt.
Diese Ebene der Untersuchens, die sich in den Leuchtkästen andeutet,
hält die Künstlerin nicht davon ab, immer wieder ganz im Prozess des
Tuns zu versinken. Beim Betrachten ihrer Arbeiten zieht sie uns hinein in
ihre Welt aus Schwarz und Weiß. Ganz in das Innere des Berges oder in
die Tiefe des Tropfens.
Susanne Greinke, Dresden, Juli 2021



